Tantra: die verpasste Chance.

Vorneweg: Ich spreche hier von Tantra und den gesellschaftlichen Ansichten der Inder und Inderinnen über die Vielfalt sexueller Identitäten und Körper noch bevor die britische Kolonialisierung Indiens diese tiefgehend veränderte.

In der indischen Mythologie gibt es neben den weiblichen und männlichen Gottheiten Shakti und Shiva auch die intersexuelle Gottheit Ardhanarishvara, die weibliche und männliche Eigenschaften vereint, sowie die transsexuelle Gottheit Mohini, die die weibliche Form des Gottes Vishnu verkörpert. Darüber hinaus gibt es Shikhandi, eine Gottheit, die als Mädchen geboren und als Junge aufgezogen wurde. Später tauschte sie ihr Geschlecht mit einem Yaksha, einem Naturgeist, und wurde ein Mann. Es gibt noch mehr solcher Gottheiten und sie sind für die Hijras – indisch für Personen des dritten Geschlechts – von hoher Bedeutung.

Im Gegensatz zum Westen wurden die Eigenschaften und Körper dieser Gottheiten nicht als deformierte und zu korrigierende Spielarten der Natur angesehen, sondern als Gabe an Personen, die männlich und weiblich gleichzeitig in sich tragen. In ihrer Vorstellung ist es diese Vereinigung der Gegensätze, die das Universum erst entstehen ließ.

Ich habe im Zusammenhang mit tantrischen Räumen noch nie von Hijras, Ardhanarishvara oder Shikhandi gehört, nur von Shiva und Shakti.

Weshalb spricht das westliche Tantra also nur von Shiva und Shakti als die alleinigen Kräfte, nämlich weiblichen und männlichen, in unserer Welt?

Nun, weil die hohe Kultur des Tantra im Prozess der kulturellen Aneignung oder der (wieder einmal) westlichen Kolonialisierung dem binären Denken des Westens ohne Reflexion unterworfen wurde.

Schade, dass Tantra als Befreiung der Sexualität so hochgelobt wurde, um dann doch nur im christlichen und patriarchalen Rahmen der binären Ge-schönsdefinition zelebriert zu werden.

Und schade, dass diese Chance verpasst wurde. Denn gerade Tantra anerkennt alle Formen sexueller Identitäten und Körper.